Der Vater des ägyptischen Romans

Zum 100. Geburtstag von Nagib Mahfouz am 11.12.1911

Am 11. Dezember 2011 wäre Nagib Mahfouz, der berühmteste arabische Schriftsteller, 100 Jahre alt
geworden. Er starb am 30. August 2006, kurz vor seinem 95. Geburtstag. Im Laufe seines für
arabische Verhältnisse ungewöhnlich langen Lebens hat er so manchen Wandel miterlebt, den er
auch in seinen Werken verarbeitet hat.
Geboren und aufgewachsen ist er in der Altstadt von Kairo, die er kaum einmal verlassen hat,
lediglich, wie die meisten mittelständischen Ägypter im Sommer für einen Urlaub am Meer in
Alexandria. Das Land selbst hat Mahfouz nur zweimal verlassen. Selbst zur Verleihung des
Literaturnobelpreises reiste er nicht persönlich. Den nahmen seine Töchter 1988 für ihn entgegen.
Ganz Kind seiner Stadt ist er geprägt von seinen Vorstreitern der Nahda wie etwa Taufk al-Hakim,
dem „Vater des arabischen Theaters“, Taha Husain, dem Intellektuellen und Mitgestalter der modernen
Literaturkritik, und Jussuf Idris, der die moderne Form der Kurzgeschichte in der arabischen Literatur
etabliert hat sowie der Phase des Aufbruchs in den 20er Jahren in Ägypten, als die ersten
Tageszeitungen gegründet wurden, politische Parteien und Gewerkschaften entstanden, mit Huda
Shaarawi (Begründerin der ersten Frauenrechtsbewegung in Ägypten) die erste Frau 1923 öffentlich
ihren Schleier ablegte und das geistig-intellektuelle Leben Ägyptens aufblühte. Einerseits kämpften die
Intellektuellen für die Unabhängigkeit Ägyptens vom britischen Mutterland, andererseits erhielten
viele von ihnen in dieser Zeit ihre Ausbildung in Europa, kamen so mit Theater, Film und Literatur in
Kontakt und gründeten in Kairo erste Kunstgalerien und literarische Salons.
Nach seinem Studium der Philosophie arbeitete der Sohn einer kleinbürgerlichen Familie bis zu
seiner Pensionierung 34 Jahre lang als Beamter in der ägyptischen Verwaltung (im Ministerium für
kulturelle Angelegenheiten). Vom Schreiben allein hätte er nicht leben können. Aber das hatte ihn
nicht abhalten können, nebenher zu schreiben.
Insgesamt umfasst das Werk des sehr kreativen und disziplinierten Schriftstellers 40 Romane,
Novellen und Theaterstücke, 15 Kurzgeschichtensammlungen und 25 Drehbücher. 35 seiner Romane
oder Kurzgeschichten sind entweder verflmt worden oder lieferten zumindest die Idee für einen Film
(Meister Hassan, 1952, Dein Tag wird kommen, 1952, Raiya und Sekina, 1953, Das Ungeheuer,
1954, Jugend einer Frau, 1956, Anfang und Ende, 1960 mit Omar Sharif in einer der Hauptrollen, und
viele andere), wodurch er überhaupt erst dem breiten ägyptischen Publikum, das auch heute noch zu
einem hohen Prozentsatz aus Analphabeten besteht, bekannt geworden ist.
Mahfouz thematisierte in seinen Werken u. a. das Leben in seinem Viertel (Kairo-Trilogie 1956/57, dt.
1996), was bis dahin in der arabischen und ägyptischen Literatur nicht üblich war. Mit dem Roman
Die Midaq-Gasse, 1947, dt. 1985, wird erstmals überhaupt die arabische Literaturkritik auf ihn
aufmerksam. Hier schildert er nicht nur das Leben in einer typischen Gasse der Kairoer Altstadt
sondern auch das Sterben des alten Viertels, den Tod der Traditionen, der Werte wie der Ethik und
Moral, der Menschlichkeit und Solidarität. Die Journalistin Erdmute Heller nannte Mahfouz einen
„Anwalt der kleinen Leute, der Ausgestoßenen, Unterdrückten und Entrechteten, deren Schicksal bis
dahin unter dem Deckmantel der Moral, der Religion und der Heuchelei verschwiegen worden war.“
Andere verglichen ihn gar mit Thomas Mann, Charles Dickens oder Honoré de Balzac. Ist doch die
Kairo-Trilogie bestehend aus den drei Gesellschaftsromanen Zwischen den Palästen, Palast der
Sehnsucht, und Zuckergässchen, 1956/57, dt. 1996, eine ausführliche Schilderung des Kairoer
Kleinbürgertums. In Die Kinder unseres Viertels, 1959, dt. 1990, ging Nagib Mahfouz noch weiter
und verfasste quasi eine Menschheitsgeschichte, in denen Figuren wie Adam, Moses, Jesus und
Mohamed auftreten und falsche Heilslehren angeprangert werden. Der Vorabdruck in der
Tageszeitung Al Ahram verursachte eine derartige Empörung unter den streng Religiösen, dass der
Vorabdruck eingestellt werden musste und bis heute wurde dieser Roman noch immer nicht auf
Arabisch veröffentlicht.
Mahfouz, der selbst ein toleranter und liberaler Muslim war, setzte sich nicht nur mit diesem Roman
für die Trennung von Staat und religiösen Institutionen – nach türkischem Vorbild – ein. Sein
Engagement und seine Offenheit brachten ihm aber auch Feinde ein. 1994 wurde er das Opfer eines
fanatischen Attentäters, der ihn mit Messerstichen schwer verletzte. Bis heute dürfen viele seiner
Werke in manchen arabischen Staaten noch immer nicht veröffentlicht werden.
Naguib Mahfouz hatte zunächst die Schilderungen der politischen Zustände und dann die
Enttäuschung über die Errungenschaften der Revolution von 1919 in historischen Romanen verpackt
(in seinen pharaonischen Romanen Echnaton, dt. 1999, Cheops, dt. 2005 und Radubis, 1943, dt.
2006). Auch später sind seine Schilderungen des Lebens der „kleinen Leute“ immer sozial-kritisch,
aber dennoch verständnis-, ja liebevoll geschrieben, in einer Sprache, die dem Volk entlehnt ist. Er ist
der erste, der nicht mehr die schwülstige Sprache der klassischen arabischen Dichtung und Epen für
seine Romane benutzt, sondern die Sprache reduziert, glättet, säubert, von allem Überfüssigen
befreit. Nichtsdestoweniger bleibt er dennoch in der arabischen Erzähltradition, er ist und bleibt ein
Ägypter, der seine Traditionen hat (den täglichen Besuch im Caféhaus) und ohne seine Jahrtausende
alte Kultur ohne Wurzeln wäre. In den 60er Jahren geht Mahfouz von der Schilderung der
Vergangenheit ab und stellt die Gegenwart in den Vordergrund. In Hausboot am Nil, 1966, dt. 1982,
thematisiert er die Enttäuschungen nach der Revolution der „freien Offziere“ 1952, die entgegen aller
Hoffnungen die Verstaatlichung des Grundbesitzes und die Industrialisierung des Landes vorrangig
betreiben, von einer Demokratie aber weit entfernt sind. Immer wieder wagt Nagib Mahfouz
Vorstöße in neue literarische Bereiche (Der letzte Tag des Präsidenten, 1984, dt. 2001), gleich aber
bleibt durch sein gesamtes Schaffen hindurch sein Engagement für Freiheit und Gerechtigkeit.
Durch die Verleihung des Literaturnobelpreises 1988 wird schließlich nicht nur die arabische sondern
auch der Rest der Welt auf ihn aufmerksam. So ist er für viele Kollegen in der arabischen Welt ein
Pionier. Ab Anfang der 90er Jahre entstehen im Schweizer Unionsverlag vermehrt deutsche
Übersetzungen. Aber nicht nur Nagib Mahfouz ist damit als Schriftsteller von Interesse sondern die
arabische literarische Welt an sich wird über die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht hinaus
entdeckt. Nagib Mahfouz hat sich mit seinem literarischen Werk bereits selbst ein Denkmal gesetzt.
Wem das noch nicht genügt, der kann die lebensgroße Bronzestatue mit dem typischen Spazierstock,
der Sonnenbrille und dem Buch unterm Arm auf dem Kairoer Midan Sphinx bestaunen.
weitere Informationen
über Nagib Mahfouz erhalten Sie u. a. auf der Internetseite des Schweizer Unionsverlages, bei dem
auch 23 seiner Romane auf Deutsch erschienen sind.
www.unionsverlag.com
www.marabout.de